4. Oktober 2024

Abschlusstagung der BMBF-Förderrichtlinie „Förderbezogene Diagnostik in der inklusiven Bildung“ bringt Wissenschaft und Praxis zusammen

Dr.in Susanne Gölitzer, Prof.in Kerstin Merz-Atalik, Dörte Maack, Andreas Winkel und Dr.in Dorothea Terpitz (v.l.n.r.) diskutierten über die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Praxis.

Frankfurt am Main – Am 11. und 12. September 2024 fand an der Johann Wolfgang Goethe-Universität die Abschlusstagung der BMBF-Förderrichtlinie „Förderbezogene Diagnostik in der inklusiven Bildung“ statt, organisiert vom Metavorhaben Inklusive Bildung.

Geladen waren neben den Projektbeteiligten sowie Vertreter:innen des BMBF und DLR auch Akteur: innen aus der Bildungspraxis. Gezeigt wurde, welche Instrumente zur förderbezogenen Diagnostik in den Forschungsprojekten entwickelt wurden und darüber diskutiert, was es für einen gelungenen Wissenschafts-Praxis-Transfer zur Verbesserung der Inklusion in deutschen Schulen und weiterführenden Bildungseinrichtungen braucht. Eine zentrale Frage war, welche Rolle förderbezogene Diagnostik dabei spielen kann.

Insgesamt waren 150 Vertreter:innen aus Wissenschaft, Bildungspraxis,-administration und -politik anwesend.
Am ersten Tagungstag stand der wissenschaftsinterne Austausch im Vordergrund.
Als Keynote-Speaker konnte Professor Alfredo Artiles von der Stanford University, Kalifornien gewonnen werden. In seinem Vortrag über “Choreographies of inclusive education – The uses and futures of a venerable idea” beleuchtete er den kulturhistorischen Zusammenhang von race, Behinderung und Diskriminierung und wie sich die erziehungswissenschaftliche Forschung in den USA damit auseinandersetzt.

Diese Forschung müsse sich mehr zu intersektionalen Zusammenhängen wie der schulischen Benachteiligung von children of color mit Beeinträchtigungen engagieren. Diagnostik könne dazu beitragen und bei einer passenden individuellen Förderung helfen, indem sie dazu genutzt werde, die Stärken statt der Schwächen der Kinder zu sehen. Dabei sei es allerdings wichtig, potenziell stigmatisierenden und diskriminierenden Auswirkungen von diagnostischen Prozessen entgegenzuwirken.
Dafür brauche es eine Zusammenarbeit von Wissenschaft und Praxis, die auf lange Zeiträume und nachhaltig angelegt sei. Es reiche nicht, Transfer nur als bloße Weitergabe wissenschaftlichen Materials an Bildungsinstitutionen anzusehen, vielmehr müsse Transfer als wechselseitiger Prozess aufgefasst werden, in dem wissenschaftliche Ergebnisse und Transferprodukte von Akteur:innen aus der Bildungspraxis erprobt und in Zusammenarbeit mit der Wissenschaft weiterentwickelt würden. Dafür brauche es auf beiden Seiten eine permanente Bereitschaft, den eigenen Standpunkt zu hinterfragen und gegebenenfalls zu verändern.

Foren diskutieren unterschiedliches Verständnis und Handhabung von Diagnostik

Um verschiedene Formen der Diagnostik und ihre Auswirkungen im Bildungsalltag ging es auch in den anschließenden wissenschaftlichen Diskussionsforen.
In einem Forum zu De-/Re-/Kategorisierung mit und durch Diagnostik wurde vom Forschungsprojekt InDiVers beispielsweise das Feststellungsverfahren des sonderpädagogischen Förderbedarfs analysiert und gezeigt, wie dies oftmals vom Ziel der individuellen Förderung in Stigmatisierung umschlägt. Deutlich werde dies beispielsweise in Lernstandsbeschreibungen, die ausschließlich negativ formuliert seien und nicht aufzeigten, in welchen Bereichen Schüler:innen bereits Kompetenzen erworben hätten, die weiter gefördert werden könnten. Außerdem werde das Feststellungsverfahren des sonderpädagogischen Förderbedarfs oftmals dazu genutzt, um andere Formen der Förderung von vornherein auszuschließen und so eine scheinbare Alternativlosigkeit zu suggerieren.

Strukturen des Schulsystems und andauernde Krisen stehen gelungener Inklusion im Weg

Der zweite Tagungstag stand im Zeichen des Austausches zwischen Wissenschaft und Praxis und begann unter anderem mit einem Resümee von MInkbi-Projektleiter Prof. Dr. Dieter Katzenbach zur Lage der Inklusion und der mangelnden Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention in Deutschland:
„Der Verweis auf die Umsetzung der UN BRK erzeugt mittlerweile oftmals nur noch Schulterzucken, das ist beunruhigend.“ Wie sich die inklusive Bildung weiterentwickele, sei „schwer zu prognostizieren“, so Katzenbach.
Mittlerweile sei der Tenor:

„Wir kümmern uns darum, wenn Zeit und Geld da ist.“

Prof.in Dr.in Kerstin Merz-Atalik von der PH Ludwigsburg verwies in der anschließenden Diskussionsrunde zum „Wissenschafts-Praxis Transfer“ auf die Frage der Moderatorin Dörte Maack, was andere Länder bei der Umsetzung schulischer Inklusion besser machen würden als Deutschland, auf den Unterschied in den schulischen Strukturen:
„Andere Länder haben unterschiedliche Ausgangslagen, bspw. einen allgemeinen Lehrplan, der individuell angepasst wird. Außerdem sind die Lehrer den Umgang mit Heterogenität gewohnt.“

Deutschland hingegen werde „der Individualität der Schüler:innen nicht gerecht“, kritisierte Merz-Atalik und forderte:

„Wir müssen selektive Strukturen abbauen!“

Dafür müsse auch die Bundesregierung mehr Impulse geben und Vorgaben machen.

„Eine Schule für alle“ und mehr fachbezogene Expertise an den Schulen

Auch Andreas Winkel, der Beauftragte für die Belange von Menschen mit Behinderung des Landes Hessen, zeigte sich unzufrieden mit der Selektion in deutschen Schulen:
„Wir brauchen eine Schule für alle, Inklusion ist ein Gesellschaftsmodell, in dem alle gemeinsam leben, wir dürfen erst gar nicht aussortieren, sonst verlieren wir die Leute. Wir müssen das gegliederte Schulsystem hinter uns lassen.“

Damit mehr Schüler:innen Anschluss finden, müssten sich aber auch die allgemeinen Schulen mehr engagieren, betonte Dr.in Dorothea Terpitz von Gemeinsam leben Hessen e.V:

„Die allgemeine Schule muss etwas tun, hier sind frühe Gespräche wichtig. Die Sonderpädagogik kommt immer erst ins Spiel, wenn die Schule an der Grenze ist. Hier sollte früher das Gespräch mit den Eltern gesucht werden.“

Dr.in Susanne Gölitzer, Schulleiterin der Josephine-Baker-Gesamtschule Frankfurt am Main, forderte dafür auch mehr förderbezogenes Fachwissen an den Schulen:

„Wir brauchen Experten an den Schulen, die sich mit bestimmten Bedarfen auskennen, z.B. bei Lese-Rechtschreibschwäche (LRS). Die Feststellung des Sonderpädagogischen Förderbedarfs erfolgt oft nur von Sonderpädagogen und wird selten überprüft. Eine wirklich pädagogische Diagnostik kommt kaum vor. Wir brauchen eine Diagnostik, die von allen gemacht wird und immer wieder überprüft wird.“

GalleryWalk und Transferwerkstätten bieten Raum zur Diskussion

Der intensive und konstruktive Austausch wurde anschließend in mehreren Transferformaten vertieft. So hatten Teilnehmer:innen aus Bildungspraxis, Bildungsadministration und Bildungspolitik in einem GalleryWalk die Möglichkeit, mit den Projekten in den Austausch zu gehen und sich an Informationsständen der Projekte über wissenschaftliche Ergebnisse und Transferprodukte zu informieren.
Vertieft wurden diese Diskussionen über Wissenschafts-Praxis-Kooperationen und dem Praxiseinsatz wissenschaftlicher Tools zu förderbezogener Diagnostik anschließend in parallel stattfindenden und thematisch gebündelten Transferwerkstätten.
Beschlossen wurde die Tagung mit einem abschließenden Plenum, in dem nochmals die Bedeutung der Etablierung funktionierender Wissenschafts-Praxis-Vernetzung durch die Einbindung aller Partner betont wurde sowie die Relevanz des Transfers der Projektergebnisse in die Bildungslandschaft.

Goethe-Universität Frankfurt
Fachbereich Erziehungswissenschaften
Institut für Sonderpädagogik
Theodor-W.-Adorno-Platz 6
D-60629 Frankfurt am Main