
Erzähl- und Lesekompetenz erfassen und fördern – Entwicklung einer digitalen Prozessdiagnostik mit integriertem adaptiven Förderkonzept für den Elementar- und Primarbereich
(Prof.in Dr.in Tanja Jungmann & Dr.in Marlene Meindl)
Fragestellung
Forschungsmethode
Status und Laufzeit
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Erzähl- und Lesekompetenz erfassen und fördern – Entwicklung einer digitalen Prozessdiagnostik mit integriertem adaptiven Förderkonzept für den Elementar- und Primarbereich
Im Rahmen des Projektes EuLe-F wird das Verfahren EuLe 4-5 (Meindl & Jungmann, 2019a) digitalisiert und zu einem prozessdiagnostischen Instrument der Erzähl- und Lesekompetenzen im Übergang vom Kindergarten in die Grundschule weiterentwickelt. Darauf aufbauend werden adaptive Fördermöglichkeiten für die Bereiche Erzählkompetenzen, Schriftwissen, Phonologische Bewusstheit, Wortbewusstheit, Schriftbewusstheit und Buchstabenkenntnis (rezeptiv/produktiv) konzipiert. Projektziel ist die Verbesserung der diagnosegeleiteten, evidenzbasierten Literacyförderung im Elementar- und Primarbereich. Die förderdiagnostischen Materialien werden unter Berücksichtigung der Einschätzungen der pädagogischen Fach- und Lehrkräfte optimiert und in den Bildungsinstitutionen implementiert. Dieser Prozess wird durch formative Evaluation begleitet. Zudem wird im Rahmen der summativen Evaluation überprüft, inwiefern die Kinder in ihren frühen literalen Kompetenzen von der adaptiven Förderdiagnostik profitieren. Nachdem die Güte und die Effektivität des digitalisierten Verfahrens im Projekt überprüft wurde, soll allen pädagogischen Fachkräften und Lehrkräften im Primarbereich ein marktfähiges Produkt (Diagnose- und Förder-App) zur Verfügung stehen. Die Dissemination der Projektergebnisse erfolgt über Praxishandbücher und wissenschaftliche Publikationen.
Das Projekt EuLe-F bearbeitet folgende Forschungsfragen:
- Erleichtert der Einsatz der digitalisierten Prozessdiagnostik EuLeApp© die Einschätzung der frühen literalen Kompetenzen und das Treffen von sinnvollen Förderentscheidungen durch die Fachkräfte?
- Sind durch den Einsatz der adaptiven Fördermaterialien im Kita-Alltag positivere literale Lern- und Entwicklungsverläufe bei den Kindern nachweisbar?
Beim computerisierten, adaptiven Testen (CAT), das in der EuleApp© realisiert wird, werden auf der Basis des Antwortverhaltens des Kindes nur die Items präsentiert, die einen hohen Informationsgehalt bezüglich der literalen Kompetenzen des Kindes haben. Das Lösungsverhalten wird fortwährend nach der Beantwortung eines jeden Items berechnet und die Aufgaben aufgrund eines Algorithmus automatisch ausgewählt. Dafür greift die App auf einen Itempool von über 200 Items zu, der möglichst homogene Items mit fein abgestufter Verteilung der Itemschwierigkeiten enthält. Diese werden im Rahmen der ersten Projektphase zur Kalibrierung der Items ermittelt. Anschließend werden die Items in digitalisierter, kindgerechter Form (eingebettet in eine Rahmengeschichte) über die EuLeApp© verfügbar gemacht. Durch die Verknüpfung der Module und die in Relation gesetzten Daten wird die Ausgabe in ein Auswertungsportal (Testergebnisse, Statistiken etc.) ermöglicht (Meindl, Stuhr, Nicosia & Jungmann, 2022).
Die Entwicklung der Fördermöglichkeiten, die auf die ermittelten Stärken-Schwächen-Profile abgestimmt sind, orientiert sich an der einschlägigen nationalen und internationalen Literatur und den eigenen Erfahrungen aus Vorläuferprojekten zur Professionalisierung pädagogischer Fachkräfte. So birgt die sprachliche Begleitung von Spielaktivitäten und die gezielte Nutzung von Schrift im Freispiel ein hohes sprach- und literacyförderliches Potenzial, das aktuell aber noch zu wenig genutzt wird (z. B. Wildgruber et al., 2016; Cordes et al., 2019). Zur Umsetzung einer an die literalen Lernausgangslagen der Kinder angepassten, alltagsintegrierten Förderung wurde u. a. die Spielebox aus dem GIF-Plus Projekt (Gornik et al., 2022) weiterentwickelt. Dabei handelt es sich um eine Sammlung von bekannten und neuen Spielideen zur Entwicklungsförderung. In ihrer ursprünglichen Fassung enthielt sie 37 Spiele zur alltagsintegrierten Förderung der sprachlich-literalen Kompetenzen (Jungmann et al., 2018), die um Impulse für die literacyförderliche Raumgestaltung und Spielaktivitäten zur Förderung aller Teilaspekte der Early Literacy, die mit der EuLeApp© erfasst werden, ergänzt wurde. Den Rahmen für den alltagsintegrierten Einsatz der Förderspiele bildet die Förderlandkarte Die Eulen-Insel (Abbildung 1). Sie besteht aus sechs Landschaftsbereichen mit Wimmelbildcharakter, die die sechs Early Literacy-Kompetenzbereiche repräsentieren. Diese können die Kinder gemeinsam mit der Handpuppe Eulalie von Living Puppets erkunden (Stuhr et al., 2023).

Abb. 1_ Förderlandkarte Die Eulen-Insel

Abb. 2_ Förderschatzkiste
Die dazugehörige Förderschatzkiste enthält derzeit insgesamt 103 Ideen für analoge, alltagsintegrierte Förderspiele und 31 Impulse für eine literacyförderliche Gestaltung des Gruppenraums im Karteikartenformat (Abbildung 2), die den Landschaftsbereichen der Förderlandkarte zugeordnet sind (Tabelle 1).
Mit ihnen kann die frühe literale Kompetenz in jeder Alltagssituation der Kita gefördert werden. Die Impulse und Aktivitäten kommen allen Kindern zugute. Durch individuelle Variations- und Anpassungsmöglichkeiten können aber auch Kinder mit besonderen Bedürfnissen und Bedarfen lernwirksame Vorerfahrungen mit Schrift und Buchstaben in ihrer Umgebung machen und an den spielerischen Aktivitäten partizipieren (orientiert am Universal Design for Learning, Campbell, Kennedy & Milbourne, 2012).
Landschaftsbereich | Early Literacy Kompetenz | Anzahl der Spiele und Impulse |
„Dorf der Schrift“ | Schriftbewusstheit | 11 Spiele, 14 Impulse |
„See des Schriftwissens“ | Schriftwissen | 6 Spiele, 4 Impulse |
„Moor der Worte“ | Wortbewusstheit | 19 Spiele, 3 Impulse |
„Wald der Laute“ | Phonologische Bewusstheit | 31 Spiele, 1 Impuls |
„Wiese der Buchstaben“ | Buchstabenkenntnis | 21 Spiele, 2 Impulse |
„Strand der Geschichten“ | Erzählfähigkeit | 15 Spiele, 7 Impulse |
Tabelle 1: Übersicht über die Förderschatzkiste
Die Karten enthalten auf der Vorderseite Angaben zur situativen Verwendung (z.B. Bilderbuchbetrachtung, Morgenkreis, Freispiel, Musizieren), zur geschätzten Dauer, zum empfohlenen Altersbereich der Kinder, zur Personenzahl und zu benötigten Materialien für die Umsetzung. Zudem wird die Durchführung des Förderspiels auf der Vorderseite kurz, aber möglichst illustrativ beschrieben. Drei Schwierigkeitsstufen ermöglichen die Anpassung der sprachlichen, kognitiven und motorischen Anforderungen des Förderspiels an die individuellen Lernausgangslagen, um allen Kindern die Teilhabe am Spielgeschehen zu ermöglichen. Auf der Rückseite der Förderkarten finden sich Ideen für weitere Spielvariationen, mögliche Fragen an die Kinder, Reflexionsfragen für pädagogische Fachkräfte und Tipps für weiterführende Literatur und Materialien. Die Abbildungen 3 und 4 zeigen beispielhaft zwei Karten aus der Förderschatzkiste zur alltagsintegrierten, adaptiven Förderung aus den Bereichen Schriftbewusstheit und Wortbewusstheit.
Die Förderschatzkiste kann durch pädagogische Fachkräfte noch durch eigene Förderideen erweitert werden. Dafür stehen Blanko-Karten zur Verfügung (Stuhr et al., 2023).
Das Fördermaterial wird durch ein Handbuch im DIN A5-Format ergänzt. Neben einigen Hintergrundinformationen rund um Early Literacy-Aktivitäten enthält es eine Anleitung für den Einsatz von Förderlandkarte, Förderschatzkiste und Handpuppe im pädagogischen Gruppenalltag sowie für die Einzelförderung, nützliche weiterführende Links und Literaturempfehlungen.
Im dritten Arbeitsschritt erfolgt die Implementierung in die Alltagspraxis der Kindertageseinrichtungen sowie der ersten Grundschulklassen. Über den Einsatz der EuLeApp© erhalten die pädagogischen Fachkräfte eine computerisierte Auswertung der Lernverlaufskurven für einzelne Kinder bzw. die gesamte Kindergruppe. Die Prozessdiagnose wird systematisch über die App mit den Fördermöglichkeiten verbunden, sodass die pädagogischen Fachkräfte gezielte Hinweise zur Förderung der literalen Kompetenzen im Alltag erhalten. Im Rahmen der formativen Evaluation erfolgt ein regelmäßiger Austausch über die Praxistauglichkeit der EuLeApp© und der entwickelten Fördermöglichkeiten in Fokusgruppen mit den beteiligten Fachkräften. Die Fokusgruppengespräche werden aufgezeichnet, transkribiert, ausgewertet und die Ergebnisse finden Eingang in die Förderempfehlungen.
Wenngleich die Digitalisierung den Fachkräften die Interpretation der Ergebnisse und die Ableitung von Förderimplikationen abnimmt, ist davon auszugehen, dass Kontextinformationen über das Kind im Einzelfall (Sprachentwicklung, Migrationshintergrund, sozioökonomischer Status, häusliche Lernumgebung) die Modifikation von Förderentscheidungen erforderlich macht. Auch ist davon auszugehen, dass die Handhabung der Software zunächst Unsicherheiten auslösen wird. Die Materialien werden auch durch das begleitende Handbuch von vielen Einrichtungen als selbsterklärend empfunden. Allen Einrichtungen wurde aber das Angebot einer Kurzschulung gemacht, das etwa von der Hälfte der Einrichtungen angenommen wurde.
Untersuchungsinstrumente:
- Ebene der Fachkräfte: Abhängige Variablen sind die förderdiagnostischen Kompetenzen. Sie werden über einen Fragebogen und halbstrukturierte Interviews erhoben. Als Kontrollvariablen werden das Ausmaß des Vorwissens der Fachkräfte sowie deren Erfahrung in alltagsintegrierter Förderung erfasst.
- Ebene der Kinder: Abhängige Variablen sind (a) die frühen literalen Kompetenzen, die in der Kalibrierungsstichprobe mit dem Prototpyen der EuLeApp und in den beiden Untersuchungsgruppen mit gestuftem Treatment mit der EuLeApp© erfasst werden sowie (b) die Lese- und Rechtschreibleistungen am Ende der ersten und zweiten Klasse, die mit dem SLRT-II (Moll & Landerl, 2010) erhoben werden. Als Kontrollvariablen werden die sprachlichen Kompetenzen der Kinder im Vor- und Grundschulalter über den SET 3-5 (Petermann, 2016) bzw. den SET 5-10 (Petermann, 2018) erfasst.
- Zur Validierung der EuLeApp© kommt das LRS-Screening (Endlich et al., 2019) zum Einsatz.
Der Prototyp der EuLeApp©…
- … ist alterssensitiv. Alle z-standardisierten Skalenwerte unterscheiden sich signifikant in Abhängigkeit vom Testalter der Kinder (vgl. Testa et al., im Druck).
- … ist in der Lage, zwischen Kindern mit und ohne sprachliche Auffälligkeiten sowie mit und ohne LRS-Risiko zu differenzieren.
- … hat das Potenzial vier verschiedene Early Literacy-Profile zu identifizieren. Profil 1: Kinder mit außerordentlich guten Early Literacy-Kompetenzen (17% der Gesamtstichprobe); Profil 2: Kinder mit durchschnittlichen Early Literacy-Kompetenzen (41% der Gesamtstichprobe); Profil 3: Kinder mit leicht unterdurchschnittlichen Early Literacy-Kompetenzen, Profil 4: Kinder mit deutlich unterdurchschnittlichen Early Literacy-Kompetenzen (Ausnahme: Buchstabenkenntnis). Die Profilzugehörigkeit wird durch die sprachlichen Kompetenzen und das Alter der Kinder beeinflusst. In den Profilen 3 und 4 waren mehr Kinder mit sprachlichen Auffälligkeiten und signifikant jüngere Kinder vertreten als in den Profilen 1 und 2 (Stuhr et al., 2024).
Aus dem Prototyp wurde in der Projektphase 1 die eigentliche EuLeApp© als marktfähiges Produkt entwickelt. Um die psychometrischen Eigenschaften der EuLeApp© zu überprüfen wurde die Methode des Computerized Adaptive Testing (CAT) verwendet, die auf der Item Response Theory (IRT) basiert. Auf der Grundlage dieses Ansatzes ist eine automatische Auswahl der nächsten Items möglich, die sich an dem Antwortverhalten des individuellen Kindes orientieren. Dies macht die App ökonomisch und in der Praxis einfach handhabbar (vgl. Meindl et al., 2022; Meindl et al., 2024).
Die Ergebnisse der Projektphase 2 zur Einsetzbarkeit und Effektivität der auf die Ergebnisse aus der Erfassung mit der EuLeApp© abgestimmten Fördermaterialien werden derzeit noch ausgewertet.
Status: abgeschlossen
Laufzeit des Projekts: September 2021 – November 2024
Universität Rostock
Universität Oldenburg
Prof.in Dr.in Tanja Jungmann / C.v.O. Universität Oldenburg / Fakultät I / Institut für Sonder- und Rehabilitationspädagogik / Postfach 2503 / 26111 Oldenburg / tanja.jungmann(at)uni-oldenburg.de
Dr.in Marlene Meindl / Universität Rostock / August-Bebel-Str. 28 / 18055 Rostock / marlene.meindl(at)uni-rostock.de
Downloads / Links

Projektvorstellung (PP-Präsentation)
Präsentationsfolien zur Vorstellung des Projekts im Rahmen der Auftaktveranstaltung der Förderrichtlinie (März 2022) (PDF - 1 MB)
Team
Das Projekt EuLe-F war ein Verbundprojekt, das an mehreren Standorten unterschiedliche Teilprojekte bearbeitet.

Prof.in Dr.in Tanja Jungmann
Verbundkoordination und Projektleitung
Teilprojekt: EuLe-F Förder-App und Implementierung
tanja.jungmann(at)uni-oldenburg.de

Dr.in Marlene Meindl
Projektleitung
Teilprojekt: EuLe-F Diagnostik-App
marlene.meindl(at)uni-rostock.de

Tabea Testa
Wissenschaftliche Mitarbeit
tabea.testa(at)uni-oldenburg.de

Dr.in Melike Yumus
Wissenschaftliche Mitarbeit
Teilprojekt: EuLe-F Implementierung
melike.yumus(at)uni-oldenburg.de

Dr.in Christina Stuhr
Wissenschaftliche Mitarbeit
Teilprojekt: EuLe-F Diagnostik-App
christina.stuhr(at)uni-rostock.de
Transferprodukte und Praxismaterialien
Die EuLeApp© und die Fördermaterialien sind nach Abschluss der Interventionsphase in einem Stadium, um zu einem marktfähigen Produkt (kombinierte Diagnose- und Förder-App, die neben analogen Spielideen auch digitale Anteile erhält) weiterentwickelt zu werden. Um eine möglichst große Verbreitung in der Praxis zu erzielen, wurden Handbücher und Artikel in Fachzeitschriften für pädagogische Fachkräfte und Lehrkräfte (z.B. Sprachförderung und Sprachtherapie in Praxis und Schule) geschrieben. Tutorials zum verschränkten Einsatz der App-Ergebnisse mit den Förderstrategien werden derzeit noch entwickelt.
Weiterhin wurde eine EuLe-F Homepage aufgebaut (https://uol.de/eule-f). Multiplikator*innenschulungen für die digitalisierte Prozessdiagnostik mit adaptivem Förderkonzept können nach Abschluss der Interventionsphase über die GEW in weiteren Bundesländern für (inklusive) Regelkindergärten und -schulen angeboten werden. Darüber hinaus liegt bisher eine aktuelle Open Access-Publikation (Stuhr et al., 2024) vor, weitere wissenschaftliche Veröffentlichungen der Projektergebnisse in nationalen und internationalen Zeitschriften sind geplant.
Darüber hinaus wurde das Forschungsnetzwerk der Projektmitglieder durch die aktive Teilnahme an Netzwerktreffen des MinkBi-Metaprojekts und Beiträge zu nationalen und internationalen Konferenzen erfolgreich aufgebaut und schrittweise erweitert. Diese Vernetzungsaktivitäten haben die Sichtbarkeit des Projekts erheblich gestärkt, die interdisziplinäre Zusammenarbeit gefördert und die Integration seiner Ergebnisse in die nationale und internationale Forschungsgemeinschaft sichergestellt.
Interview mit dem Projekt
Beteiligte Personen: Prof.in Dr.in Tanja Jungmann
Tanja Jungmann, Dr. phil., ist Professorin für Sprache und Kommunikation und ihre sonderpädagogische Förderung unter besonderer Berücksichtigung inklusiver Bildungsprozesse am Institut für Sonder- und Rehabilitationspädagogik der C.v.O. Universität Oldenburg. Sie war Projektkoordinatorin des Verbundprojektes EuLe-F und Projektleiterin des Teilprojektes Adaptive, alltagsintegrierte Förderung. Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Professionalisierung von pädagogischen Fach- und Lehrkräften, evidenzbasierte frühe Bildungskonzepte, Sprach- und Literacydiagnostik sowie die alltagsintegrierte Sprach- und Literacyförderung.
Was war der Anlass für das Projekt und welche Ziele wurden verfolgt?
Etwa 18,8 Prozent aller Kinder verfehlen den Mindeststandard im Lesen, 30,4 Prozent jenen im Rechtschreiben am Ende der vierten Klasse. Die Forderung von Bildungsexperten, stärker die Grundschulen in den Blick zu nehmen, um die Lese- und Rechtschreibleistungen zu fördern, ist nicht neu und war auch in den vergangenen Jahrzehnten nicht zielführend. In Deutschland werden Probleme beim Lesen und/oder Rechtschreiben erst festgestellt, wenn das Kind bereits am Erwerb dieser Kulturfertigkeiten gescheitert ist. Das Hineinwachsen in die Erzähl-, Buch- und Schriftkultur findet aber lange vor dem Schuleintritt statt. Neben dem literalen Lernumfeld beeinflusst auch der individuelle Sprachentwicklungsstand die Entwicklung früher literaler Kompetenzen. Kinder mit Sprachentwicklungsstörungen (SES) zeigen im Vergleich zu sprachunauffälligen Kindern häufiger geringere Fähigkeiten z. B. in der phonologischen Bewusstheit, der Buchstabenkenntnis, den Erzählfähigkeiten und dem Schriftwissen.
Mit dem Verbundprojekt EuLe-F wurde ein präventiver Ansatz verfolgt, der bereits vor der Entstehung von Schwierigkeiten im Schriftspracherwerb im Schulalter greift. Dazu wurde ein prozessdiagnostisches, adaptives Tool, die EuLeApp, und ein darauf abgestimmtes alltagsintegriertes Förderkonzept entwickelt, um aufbauend auf den Ergebnissen der EuLeApp bestmögliche Lernumgebungen zu gestalten und die alltagsintegrierte Förderung den Lernausgangslagen anzupassen.
Mit welchen Praxispartnern haben Sie zusammengearbeitet und wann?
Wir haben in der Projektphase 1, die von September 2022 bis Juli 2023 andauerte, in der die Entwicklung der EuLeApp im Vordergrund stand, mit 56 pädagogischen Fachkräften aus 19 Kindertageseinrichtungen und fünf Grundschulen mit Sprachförderklassen als Praxispartner zusammengearbeitet. In der Projektphase 2 (März 2024 bis August 2024) konnten für die Umsetzung der EuLeApp und der Fördermaterialien in die Praxis 88 pädagogische Fachkräfte aus 16 Einrichtungen gewonnen werden.
Welche Erfahrungen haben Sie mit der Zusammenarbeit gemacht?
Bereits bei der Akquise der Stichprobe kam es zu großen Herausforderungen, die vor allem dem Fachkräftemangel in den Einrichtungen geschuldet waren.
In Fokusgruppeninterviews im Rahmen der Implementierungsforschung wurden Potenziale einer App-basierten Diagnostik in der Standardisierung des Verfahrens und einer größeren Objektivität der Ergebnisse gesehen. Die Fachkräfte erhoffen sich eine Zeitersparnis in der Auswertung sowie eine weiterführende Nutzung der Ergebnisse für Entwicklungsberichte, Elterngespräche und die literale Förderung der Kinder. Als Barrieren für den Einsatz werden v.a. strukturelle Bedingungen in den Kindertagesstätten, wie mangelnde personelle und zeitliche Ressourcen, ungeeignete Räumlichkeiten, fehlende digitale Endgeräte oder schlechtes Internet genannt. Aber auch aus der persönlichen Haltung der Fachkräfte, den eigenen digitalen Kompetenzdefiziten und dem Spannungsfeld zwischen digitalen Risiken und Chancen werden Barrieren deutlich. Den pädagogischen Fachkräften schien trotz intensiver Information nicht klar zu sein, dass durch die App nur die Einschätzung der Early Literacy-Profile, nicht aber die individuelle Förderung erfolgt.
Aufgrund des Personalmangels in den Einrichtungen und der Arbeitsbelastung der pädagogischen Fachkräfte fand zudem entweder keine oder nur eine sehr unregelmäßige Anwendung der Materialien statt.
Wird die Zusammenarbeit über das Projekt hinaus weitergeführt und wenn ja in welcher Form?
Es wird auf jeden Fall versucht, den Kontakt weiterhin aufrechtzuerhalten. Die EuLeApp wird in Kürze über die App-Stores verfügbar sein und es sollen auch noch Anpassungen und Modifikationen in den Fördermaterialien aufgrund der Rückmeldungen der Fachkräfte aus einem dritten Fokusgruppeninterview vorgenommen werden, um diese besser an die Bedarfe und Bedürfnisse in der Praxis anzupassen. Darüber hinaus sollen die Fördermaterialien und Kurzinputs zu deren alltagsintegriertem Einsatz als OER verfügbar gemacht werden.
Welche Transferprodukte haben Sie entwickelt und wie ist aktuell der Stand?
Als Transferprodukte wurde die EuLeApp entwickelt, die aktuell über die App-Stores verfügbar gemacht wird und die Fördermaterialien, bestehend aus der EuLe-Insel, der Förderschatzkiste mit Karten für alltagsintegrierte Förderimpulse und -spiele zu allen Early Literacy-Bereichen und dem dazugehörigen Handbuch. Auszüge aus den Materialien können exemplarisch bereits jetzt auf unserer projekteigenen Homepage eingesehen werden (https://uol.de/eule-f).
Sie haben mit dem Veranstaltungsformat „ElternEuLe“ ein Konzept zur häuslichen Förderung früher schriftsprachlicher Kompetenzen entwickelt. Was ist die Idee dahinter und gibt es schon Erfahrungen, wie das Format angenommen wird?
Bei der „ElternEuLe“ handelt es sich um ein additives Angebot für die häusliche Early Literacy-Förderung, die nicht Gegenstand des EuLe-F Projektes war, sondern zusätzlich durch das Promotions-vorhaben von Tabea Testa zur alltagsintegrierten Förderung in den Einrichtungen zum Einsatz kommen sollte. Zielgruppe sind insbesondere Eltern, die ihren Kindern bisher eine weniger anregende literale häusliche Lernumgebung anbieten können und hier auf Impulse angewiesen sind. Da wir im EuLe-F Projekt nur eine stark positiv verzerrte Stichprobe akquirieren konnten, war es leider nicht möglich, die „ElternEule“ mit einer ausreichend großen Stichprobe durchzuführen. Eine Machbarkeitsstudie zeigte, dass Expert*innen und Eltern der Zielgruppe das Konzept als größtenteils vielversprechend für die praktische Umsetzung einschätzten. Derzeit werden Materialien auf der Basis der kritischen Rückmel-dungen optimiert. Weitere Informationen zur „ElternEule“ sind ebenfalls auf unserer Homepage zu finden (https://uol.de/eule-f/fuer-eltern-und-bezugspersonen).
Ihr Projekt ist ja mittlerweile abgeschlossen. Können Sie aus Ihrer Erfahrung etwas darüber sagen, wie nachhaltiger Transfer in die Praxis gelingen kann und welche Rahmenbedingungen dafür notwendig wären?
Ob das entwickelte förderdiagnostische Angebot in Kitas potenziell wirkt, hängt – neben der tatsächlichen Anwendung – stark von der Qualität ab, mit der die pädagogischen Fachkräfte diese durchführen. Gerade im Hinblick auf alltagsintegrierte Maßnahmen besteht die Gefahr, dass diese ohne adäquate Professionalisierungsmaßnahmen nicht ausreichend ausgeschöpft werden. Die Wissenschaft unter-schätzt oft, wie schwer es den Fachkräften fällt, spezifische Fördertechniken zu erlernen und beiläufig anzuwenden. Der Transfer wissenschaftlicher Erkenntnisse in den pädagogischen Alltag wird oft durch strukturelle und organisatorische Barrieren behindert, von denen auch die pädagogischen Fachkräfte in unseren Fokusgruppeninterviews berichteten. Dies führt dazu, dass viele Fachkräfte die vorhandenen Materialien nicht in ihren Arbeitsalltag integrieren können. Daraus ergibt sich ein dringender Bedarf an stärker praxisorientierten Forschungsansätzen wie z.B. dem Design-Based Research, um Fördermaßnahmen zu entwickeln, die besser auf die spezifischen Bedürfnisse und Bedarfe von Fach- und Lehrkräften zugeschnitten sind.
Veröffentlichungen
Meindl, M., Stuhr, C., Yumus, M., Schlotmann., N., Leuschner, H. & Jungmann, T. (im Druck). Early Literacy-Erfassung mit der EuLeApp© und alltagsintegrierte Förderung der frühen literalen Kompetenzen in Kitas. In: K. Beck, R. Ferdigg, D. Katzenbach, J. Kett-Hauser, S. Laux & M. Urban (Hrsg.). Förderbezogene Diagnostik in der inklusiven Bildung Kompetenzbereiche – Fachdidaktik. Münster/New York: Waxmann.
Meindl, M., Stuhr, C., Yumus, M., Schlotmann., N. & Jungmann, T. (2024). Diagnostische Erfassung von Literacy-Kompetenzen. Sprachförderung und Sprachtherapie in Schule und Praxis, Sonderheft: Diagnostik, 127-141.
Meindl, M., Stuhr, C., Nicosia, R. & Jungmann, T. (2022). Adaptive Diagnostik und Förderung der frühen Erzähl- und Lesekompetenzen im Elementar- und Primarbereich mit der EuLeApp©. In M. Spreer, M. Wahl & H. Beek (Hrsg.), Sprachentwicklung im Dialog – Digitalität – Kommunikation – Partizipation (S.89-95). Idstein: Schulz-Kirchner.
Stuhr, C., Testa, T., Meindl, M. & Jungmann, T. (2023). Prävention von Lese-Rechtschreibstörungen durch prozessorientierte Diagnose und adaptive, alltagsintegrierte Förderung der Early Literacy-Kompetenzen mit der EuLeApp. Sprachförderung und Sprachtherapie, 2(2023), 58-67.
Stuhr, C., Yumus, M., Meindl, M., Jungmann, T., & Hughes, C. M. L. (2024). Exploration of latent early literacy profiles in German kindergarten children using a newly developed app. Frontiers in Education, 9:1350266. DOI: 10.3389/feduc.2024.1350266.
Testa, T. & Jungmann, T. (im Druck). Bedeutung der phonologischen Bewusstheit als Teilkompetenz der Early Literacy. Sprache – Stimme – Gehör, Sonderheft: Update Phonologische Bewusstheit.
Testa, T. & Jungmann, T. (submitted, under review). Bedeutung der häuslichen Lernumgebung für die Entwicklung der Erzählfähigkeiten bei Kindern mit und ohne sprachliche Auffälligkeiten. Empirische Sonderpädagogik.
Testa, T., Yumus, M., Wandel, S.-T., Stuhr, C., Meindl, M. & Jungmann, T. (im Druck). Digitalisierte, prozessorientierte Diagnostik und adaptive Förderung der frühen literalen Kompetenzen von Kindern mit SES und LRS-Risiko – Erste Befunde aus dem Verbundprojekt EuLe-F. Erscheint in: W. Stöhr, M. Podszus & G. Schulze (Hrsg.), Handbuch Rehabilitationspädagogik. Bad Heilbrunn, Leipzig: Julius Klinkhardt.
Vorträge und Tagungsteilnahmen:
Teilnahme an nationalen Konferenzen:
Meindl, M., Stuhr, C., Nicosia, R. & Jungmann, T. (2022). Adaptive Diagnostik und Förderung der frühen Erzähl- und Lesekompetenzen im Elementar- und Primarbereich mit der EuLeApp©. [Vortrag]. 34. Bundeskongress der Deutschen Gesellschaft für Sprachheilpädagogik e.V., Berlin, Deutschland.
Jungmann, T. & Meindl, M. (2022). Erzähl- und Lesekompetenzen erfassen und fördern im Elementar- und Primarbereich (EuLe-F). [Posterpräsentation]. BMBF-Bildungsforschungstagung (BiFo), 14. + 15.03, Berlin.
Stuhr, C., Meindl, M., Yumus, M., Testa, T. & Jungmann, T. (2023, 21. September). Digitalisierte Prozessdiagnostik und adaptive Förderung der frühen Erzähl- und Lesekompetenzen im Elementar- und Primarbereich – Erste Ergebnisse des EuLe-F-Projekts [Vortrag]. Tagung der Fachgruppe Pädagogische Psychologie, Kiel, Deutschland.
Yumus, M., Testa, T., Stuhr, C., Meindl, M., Jungmann, T. (2023). Digital Assessment and Adaptive Promotion of Early Literacy Skills – First Results from the EuLe-F Project. [Poster Presentation] Fachgruppentagung Entwicklungspsychologie (EPSY), Berlin, Germany.
Fichtmüller, L., Jungmann, T., Testa, T., Yumus, M., Wandel, S.-T., Meindl, M. & Schlotmann, N. (2024, 27. September). Einsetzbarkeit der EuLeApp© zur Erfassung der Early Literacy Kompetenzen bei Erst- und Zweitklässlern in Sprachförderklassen [Posterpräsentation]. Bundeskongress der Deutschen Gesellschaft für Sprachheilpädagogik e.V., Heidelberg, Deutschland.
Yumus, M., Fichtmüller, L., Wandel, S.-T., Stuhr, C., Meindl, M. & Jungmann, T. (2024, 27. September). Digitale Prozessdiagnostik mit der EuLeApp© und adaptive Förderung der frühen Erzähl- und Lesekompetenzen mit der Förderlandkarte „Die EuLe-Insel“ [Posterpräsentation]. Bundeskongress der Deutschen Gesellschaft für Sprachheilpädagogik e.V., Heidelberg, Deutschland.
Meindl, M., Stuhr, C., Yumus, M., Jungmann, T. & Hughes, C. M.-L. (2024, 28. September). Early Literacy-Profile von Kindern mit und ohne sprachliche Auffälligkeiten [Vortrag]. 35. Bundeskongress der Deutschen Gesellschaft für Sprachheilpädagogik e.V., Heidelberg, Deutschland.
Testa, T., Wandel, S.-T., Meindl, M. & Jungmann, T. (2024, 16. November). Einstellungen zum Einsatz digitaler Diagnostik in Kindertageseinrichtungen – Ergebnisse aus den Fokusgruppeninterviews mit pädagogischen Fachkräften [Vortrag]. Interdisziplinäre Tagung über Sprachentwicklungsstörungen, Halle, Deutschland.
Teilnahme an internationalen Konferenzen:
Jungmann, T. & Yumus, M. (2024, 25. Juni). Adaptive assessment and promotion of early literacy skills with a newly designed App [Symposium]. FELA – Federation of European Literacy Associations, Kreta, Greece.
Yumus, M., Nicosia, R., Testa, T., Stuhr, C., Meindl, M. & Jungmann (2023, 20. Juni). Development of an App-Based Narrative Assessment: Examining Parents` Home Literacy Environment and Children’s Language and Narrative Skills [Presentation]. BRISE-Conference on Early Childhood Development, Berlin, Deutschland.
Vorträge für die interessierte Fachöffentlichkeit:
Nicosia, R. & Jungmann, T. (2022). EuLe-F. Identifying and fostering narrative and literacy skills. Invited Talk at the International DAAD Winter School, Diversity in the Classroom: from theory to practice, 07.-11.11.2022, University of Oldenburg.
Jungmann, T. (2023). Quantitative Forschung – Planung und Umsetzung am Beispiel des Verbundprojektes EuLe-F [Vortrag mit Workshop für Wissenschaftler*innen in der Qualifikationsphase]. dgs Quali meet, 06.07.2023, Online.
Jungmann, T. (2024). Digitalisierte Prozessdiagnostik mit der EuLeApp© und adaptive Förderung von Early-Literacy-Kompetenzen im Übergang von der Kita in die Schule. Eingeladener Vortrag im Rahmen des PINA-Kolloquiums am 17.01.2024, FH Potsdam.
Jungmann, T. (2024). Digitalisierte Prozessdiagnostik mit der EuLeApp© und adaptive Förderung von Early-Literacy-Kompetenzen im Übergang von der Kita in die Schule. Eingeladener Abendvortrag bei der Pädagogika am 07.10.2024, Potsdam.
Forschungsdaten
Die erhobenen qualitativen und quantitativen Daten auf Ebene der Kinder, Eltern und pädagogischen Fachkräfte werden zur Sekundärnutzung am IQB und am FDZ Bildung bereitgestellt.
Goethe-Universität Frankfurt
Fachbereich Erziehungswissenschaften
Institut für Sonderpädagogik
Theodor-W.-Adorno-Platz 6
D-60629 Frankfurt am Main